Einführung

Dieser Text richtet sich an alle Menschen, die sich öfters mal allein fühlen. An alle die psychische Probleme haben. Auch an alle, die in einer Gemeinschaft leben, wo die Dinge nicht so funktionieren, wie sie sollen… Vielleicht wird er keine Lösungen bieten, denn vielleicht gibt es (noch?) keine. Aber ein paar Inspirationen gibt es allemal… !

Es geht in diesem Text um Bemühungen kollektiven Wirtschaftens, um individualistische Gesellschaften, um Frauenrechte und um psychische Erkrankungen und um vieles vieles mehr… vor allem um die Utopie einer Gesellschaft, in der individuelle, emotionale Bedürfnisse Einzelner befriedigt werden, ohne dass das eine zu starre (Familien)Struktur nötig machen würde ….

Dieser Text will nicht verallgemeinern, aber er karrikiert an einigen Stellen. Das ist nur ein Stilmittel und zur besseren Veranschaulichung gedacht. Ausnahmen bestätigen wie bekanntlich die Regeln und von eben diesen Ausnahmen können wir oft am meisten lernen! Wenn ich also zB von “normalen” Kleinfamilien spreche, die hierarchisch aufgebaut sind, dann heisst das nicht, dass es keine Familien mit flacheren Hierarchien gibt! Sondern eher, dass wir von den paar, die es vielleicht doch gibt, unbedingt lernen sollten !

Wieso dieser Text?

Dieser Text ist meine persönliche Aufarbeitung des Themas “Gruppenprozesse”,
und das war das absolute Hauptthema auf unserer Reise… ;-)

Wie sollte es auch anders sein, wenn man mit durchschnittlich 10 bis 12 Leuten unterwegs ist, in meist nur 2 Busse gequetscht, durch ständig wechselnde neue Welten, alles teilend, von Geld über Schlafplätze über Essen…? Und wenn sich dann die Gruppenbesetzung auch noch andauernd ändert, zumindest bis auf ein kleines, überfordertes, festes Kernteam von 4 Menschen…?

Die meiste Zeit ging es zumindest für uns 4 feste Teilnehmer hauptsächlich um die Fragen: Wer sind „wir“? Was wollen wir? Wie kommunizieren wir? Wie organisieren wir uns? Was funktioniert? Und vor allem: was nicht?

Wir, d.h. Ich und noch mindestens zwei ReisekameradInnen, fuhren los mit der Vision, zu lernen, wie wir mehr in Gemeinschaft leben können. Wie wir uns mehr gemeinsam organisieren können.
Und wir konnten auch sehr viele Inspirationen sammeln auf unserer Reise:

Fast an allen Orten, die wir besuchten, waren interessante Projekte vorzufinden, die nicht von einzelnen Menschen ins Leben gerufen wurden. Sondern nein, fast alles waren Orte, an denen Menschen gemeinsam leben und/oder arbeiten. An denen Menschen tauschen, schenken, teilen… (müssen).
An denen Menschen lernen müssen, sich als Gruppe zu organisieren und zu kommunizieren.

Wir haben in unserer Gruppe selbst ein bisschen mit Organisations- und Kommunikationsmethoden herumexperimentiert. Aber für unsere aussergewöhnliche Situation gab es einfach keine wirksamen Kommunikations-Heilmittel… zumindest fanden wir keine, bis sich nach einem halben Jahr auch letzte Reste der festen Gruppe, nicht gerade gemeinschafts-gründungs-motiviert, zerstreuten.

Die Bedürfnisse, die Ideen, die Hintergründe der Leute gingen einfach zu stark auseinander. Einige hatten eine klare Vorstellung, warum wir gemeinsam reisen, andere eine andere, andere gar keine. Die Kommunikation war durch Sprachbarrieren erschwert. Die Ansprüche und Erwartungen unseres Umfelds und unserer Gastgeber wechselten dauernd, was eine enorme Flexibilität für jeden Einzelnen und natürlich auch für das “wir” als Gruppe erforderte. Kurz: wir scheiterten an jedem Defintionsversuch eines „wir“ und dementsprechend auch an gemeinsamen Plänen und Strategien.

Uns fehlten häufig Zeit und Raum für nötige Gespräche und Erklärungen, weil wir mal wieder im Bus am Strassenrand wohnen und uns um Essen und Duschen, statt um unsere Gefühle kümmern mussten. Für Bedürfnisse, die über das Bedürfnis der Freiheit hinausgingen, schien es einfach keinen Plaz zu geben.
Und wenn sich ein Mensch bei aller Reiseverwirrtheit gerade mal in die Gruppe und den Organisationsprozess eingefunden hatte, und begann die Ideen, die hinter dem Projekt standen, wirklich zu verstehen, war er/sie auch meist schon gleich wieder weg.

Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb habe ich sehr viel über Kommunikation in Gruppen gelernt. Ich weiss nicht, ob ich mehr durch die internen Gruppenprozesse in unserer Gruppe gelernt habe, oder mehr dadurch, Anderen zuzusehen. Den Menschen an all diesen faszinierenden Orten, die wir besuchten, die sie gemeinsam entwickelt, erschaffen, erhalten, und immer wieder weiterentwickelt haben …

Horizontale Kommunikation will gelernt sein!

Lag es tatsächlich an den Umständen, in denen wir uns befanden, oder waren unsere Umstände am Ende gar nicht so aussergewöhnlich? Sind unterschiedliche Bedürfnisse und Ideen, Zeitmangel, wechselnde (teils ärmliche) Lebensbedingungen, mangelnde Motivation zur besseren Kommunikation, demotivierende Treffen und Verwirrtheit, tatsächlich etwas Besonderes, das nur in Reisegruppensituationen auftritt?

Nein, natürlich nicht. Und ich stellte immer wieder fest: die Probleme, die Gemeinschaften haben, sind an allen Orten ähnlich, erschreckend ähnlich sogar! Und denen unserer Gruppe erschreckend ähnlich – wenn auch weniger extrem vielleicht.

Soweit ich das beurteilen kann, scheitern fast alle Gemeinschaften und Projekte, die Probleme haben, nicht an materiellen Fragen, wie Geld und Ressourcen.
Sie scheitern einfach nur an misslungener Kommunikation und an psychischen Problemen Einzelner, die sie nicht abfangen können. Sie scheitern an meist emotionalen, zwischenmenschlichen Kommunikationsproblemen, und infolgedessen an schlechter Koordination.

Wie “unrealistisch” eine idealistische Idee auch von aussen betrachtet aussehen mag: Wenn es eine Gruppe gibt, die sie gemeinsam tragen kann, findet sich für jede Frage des Organisations-Alltags auch eine Lösung. Wenn eine Gemeinschaft ein “wir”-Gefühl entwickelt, wenn die emotionalen Bedürfnisse Aller abgedeckt sind und wenn die Gruppe beginnt, kollektive Verantwortung füreinander und für gemeinsame Ziele zu übernehmen, ist nahezu alles möglich. Kreativität potenziert sich dann und Lösungsansätze für materielle Probleme werden lebendig und bunt. Und Fragen wie die der Finanzierung sind selbst bei Mega-Projekten plötzlich keine unlösbaren Probleme mehr, sondern Herausforderungen, deren Lösung im besten Fall sogar Spaß macht.

Doch fast niemand, der/die ein Projekt anfängt (sei es eine freie Schule, ein Dorf, ein Umwelt-Verein, ein Jugendzentrum, ein wirtschaftlicher Betrieb, eine Bürgerinitiative, … ) hat gelernt, wie das gehn soll: so viel Vertrauen zu anderen und zur kollektiven Stärke der Gruppe aufzubauen, dass so ein leichtlebiger, spielerischer Flow zustande kommen kann.

Wir alle haben etwas gemeinsam:
wir alle wurden sozialisiert in einer 1. individualistisch und 2. hierarchisch aufgebauten Gesellschaft.
Die einzigen, die in unserer Gesellschaft scheinbar teilweise noch ein paar notwendige skills für Gruppenkoordination mitbekommen sind Pädagogen und Manager (die dann aber auch hauptsächlich, um Leute besser gehirnwaschen zu können). Leute, die aus supertollen Familien kommen oder sonstwie Glück hatten mal ausgenommen.

Wenn wir also anfangen, als Team was zu machen, dann sind wir vielleicht erstmal total verwirrt, denn wir sind nicht gewohnt, ohne Manager, der uns koordiniert, gemeinsame Verantwortung für irgendetwas zu ergreifen. Erstmal klappt gar nix, wie wir uns es vorstellen.

Denn im normalen Gesellschaftsalltag kommunizieren wir meist nicht “horizontal”, sondern “vertikal”: ein Großteil der Verhältnisse zu anderen Menschen sind von klaren Hierarchien durchzogen, sei es nun ChefIn – Angestellte®, Vater/Mutter – Kind, LehrerIn – SchülerIn…. Das alles sind (bis auf erfreuliche Ausnahmen) Verhältnisse mit klarer Dominanz.

Im Zweifelsfall gibt es einfach jemanden der/die “Recht” hat und über den/die Andere(n) bestimmt, und jemanden, der/die sich unterordnen muss. Individuelle Bedürfnisse und Sichtweisen zählen da meist recht wenig. Über sowas zu reden ist in unserer schnellen Zeit keine Zeit und so sieht aus Pragmatismus die Lösung so aus: eine® entscheidet, was zu tun ist.

Die meisten jedenfalls fangen ihr “horizontale-Kommunikations-Studium”, wenn überhaupt, dann erst an, wenn sie ein selbstorganisiertes Projekt mit einer Gruppe beginnen – oft sogar dann unbewusst. Es ist ja auch nicht so, dass jede®, der/die ein Projekt anfängt das mit dem Ziel tut, Hierarchien abzubauen und Kommunikation zu verbessern.

Diese Notwendigkeit ergibt sich dann eher von selbst: einfach durch die Einsicht, dass man Leute entweder bezahlen/ihr Leben finanzieren und sie von sich abhängig machen muss – oder ihnen selbe Mitbestimmungsrechte einräumen – sonst machen die nämlich nix.

Wir müssen also, wenn wir unsere MitstreiterInnen nicht bezahlen können oder wollen, lernen, mit andersartigen Leuten wirklich auf einer Augenhöhe zu kommunizieren.
Zu kommunizieren, ohne unsachlich zu werden. Ohne Leute auf einer Gefühlsebene zu verletzen, aber auch ohne Gefühle, Bedürfnisse und Ängste auszuklammern.

Alle Ebenen von Kommunikation, sachliche Kommunikation über Organisationsprozesse und Aufgabenteilung, aber auch emotionale Themen wie Bedürfnisse, Gefühle, Ängste und zwischenmenschliche Probleme, müssen Raum und Zeit finden.

Das was hier in der Theorie relativ leicht klingt, und eigentlich eher wie eine der geringeren Herausforderungen wirkt, wenn man eine Unternehmung startet, ist in Wirklichkeit eine der größten zeit- und vor allem nervenaufwändigsten Herausforderungen in selbstorganisierten Prozessen.

Manchmal, das ist eher der Sonderfall, wird die emotionale Seite des Kommunikationsprozesses vielleicht überschätzt: dann hat man vielleicht eine funktionierende Selbsthilfe-Laber-Gruppe, die bei der kleinsten wirtschaftlichen Unsicherheit kollabiert. Weil nämlich ausser vertrauten Gesprächen leider nix geklappt hat. Und weil die Selbshilfegruppe leider auch nich mehr viel wert ist, wenn mensch plötzlich wieder allein in ner wirtschaftlich prekären Lage steckt. Das wär zB der Fall wenn jemand in der Gruppe seinen/ihren Job verliert, krank wird oder die Sozialhilfe gestrichen kriegt – es ist dann ja ganz gut, jemanden zu haben mit dem man drüber reden kann, aber was esse ich dann?

Meistens wird die Wichtigkeit und Bedeutung der Emotionen eher stark unter- als überschätzt, und die Koordinations-Prozesse überschätzt. Menschen, die immer wieder betonen, dass es ihnen wichtig wäre emoional wichtige Kommunikationsprozesse zu verbessern, werden nicht selten belächelt oder ignoriert. Methodische Vorschläge boykottiert. Vielleicht auch nur, weil vielen das Thema so komplex und schwierig erscheint, dass viele einfach Angst haben, es überhaupt anzugehen, und es lieber ganz bleibenlassen.

Ein ausbalanciertes Kommunikationsverhalten habe ich selten gesehen und scheint irgendwie so unmöglich geworden zu sein, dass Leute es gar nicht mehr anstreben.

Die Folge: Keine besonders hohe Experimentierfreude, was Kommunikationsmethoden betrifft. Treffen finden selten statt und sind dann in der Regel zu lang. Sie werden eher ungern besucht, weil sie entweder unproduktiv sind oder hauptsächlich aus Anschuldigungs- und Beschwerdemonologen Einzelner bestehen … Und das, was sie eigentlich sollten, nämlich dabei zu helfen, sich abzugleichen, zu koordinieren, gemeinsame Strategien zu finden, tun sie unzureichend und wenn auch nur mit sehr viel Mühe.

Viele Gruppen verlieren sich dann irgendwann in ner hierarchischen Struktur, mit der sie sich gar nicht wohlfühlen: in der Veranwortungen wieder nur von Einzelnen getragen werden und diejenigen dann in der Regel auch sagen, wo’s langgeht. Weil auch nur diese ein zwei Leute wissen, wie was geht.
Und obwohl sie niemandem erklären, wie’s geht, jammern sie rum, dass es niemand anderes macht. Sagen, dass sie es ja keine Hierarchie wollen, aber es ja ausser ihnen eh niemand macht, und sie dann lieber ne klare Hierarchie haben. Und am Ende hat bei so viel Jammerei niemand mehr Lust überhaupt mitzumachen, der/die nicht wirtschaflich von den Leuten an der Spitze abhängig ist.

Falle: Wissenshierarchie durch Kommunikationsmangel.

Und das geht schon bei „Kleinigkeiten“ los: In der ewig siffigen WG-Küche wird uns das erste Mal klar, dass nicht alle Menschen geborene Hausmädchen sind, und wir fangen bald an, die schimpfende Mama, ihr gekonntes Topfspül-Management und die klare Hierarchie in der Küche zu vermissen. Vielleicht übernimmt ja auch jemand die Rolle der schimpfenden Mama und damit der Buh-Frau (oder -Mann). Das hilft aber in der Regel auch nix.

Nach 5 Jahren Studium mit Küchensiff geben die meisten von uns jedenfalls jegliche Vision von Gemeinschaftsleben wieder auf, um doch eine klassische Kleinfamilienkarriere mit klarer Rollenverteilung Papa-Mama-Kinder zu beginnen. Denn was in einer Küche höchstens mal Magenbeschwerden verursacht,
kann bei einer Gemeinschaft mit Kindern, die gemeinsam einen kommerziellen Betrieb oder Selbstversorgerhof betreibt, ganz schnell zum existenziellen Problem werden.

Und je mehr Leute mit unterschiedlichen Ideen an dem Prozess beteiligt sind, deso komplzierter wird’s. Mit 3, 4 Leuten ist die Kommunikation noch recht transparent, bei 8 wird es schon schwieriger, und bei 15 kommen wir wirklich kaum mehr ohne Manager zurande.

Das einzige, was wir unserer Gesellschaft dabei noch zugute halten können ist, dass der Anteil der Männer, die wissen, wie mann eine Küche sauberhält, scheinbar steigt. Congratulations!

Marokko – kollektives Wirtschaften und festgefahrene Rollen

Was aber nun also, wenn wir uns Kleinfamilienleben aber echt nich vorstellen können, und alleine leben noch weniger vorstellen können — aber halt solche existenziellen Dinge einfach nicht klappen?!?

Die Lösung ist jedenfalls nie die, sich gegenseitig den schwarzen Peter für die Dinge, die nicht klappen zuzuschieben. Die Lösung ist auch nicht, von anderen die Lösung zu erwarten. Die Lösung ist auch nicht, die Lösung im Alleingang produzieren zu wollen.

Nein, vor allem das letzte nicht! Nicht alleine putzen!!
Denn Verantwortung allein an sich reissen bedeutet langfristig mit Pech in die Wissenshierarchiefalle zu tappen. Menschen müssen etwas gemeinsam entwickeln, damit sie es auch vertreten können und zuverlässig tun. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie den Prozess mitgestalten, sonst klappt das nicht. Also nicht einfach die Ordnung festlegen, sondern sie gemeinsam entwickeln!

Aber an diesem Punkt waren wir ja schon, und sind gescheitert.

Nun, hilfreicher wäre vielleicht, sich erst nochmal die geschichtliche Situation bewusst zu machen, in der wir uns befinden, und dann weiter zu überlegen, was zu tun ist.
Also mal ein Blick über Teich und Tellerrand:

In Marokko habe ich zum ersten Mal eine nicht-individualistisch geprägte Gesellschaft erlebt. Mir wurde zum ersten mal wirklich bewusst, was es wohl für die Menschen bedeutet, in einer Großfamilienstruktur zu leben, wie sie ja früher auch hierzulande Gang und Gäbe war, und die auch unsere Kultur und Mentalität stark mitgeprägt hat. 8 oder 15 Leute ist da nicht viel, das wäre eher die Untergrenze einer Gruppe.

Das erste, was mir auffiel, war dass es so gut wie keine großen Supermärkte gibt.
Dass in Läden und auf Märkten jede® so viel bezahlt, wie er/sie eben geben kann/will.
Es wird halt ausgehandelt, was für beide ok ist.

Händler planen Verlustgeschäfte in ihre Kalkulationen ein, denn es ist einfach normal, dass ab und zu etwas unter Einkaufspreis verkauft wird und dafür der/die Nächste wieder etwas mehr zahlt. Normal ist auch, dass man ständig von einem Laden in den nächsten geschleift wird, weil der Ladenbesitzer nebenan der Bruder, Cousin, Freund oder sonstwer ist – aber sicher nicht die „Konkurrenz“!! Alle scheinen sich zu freuen, wenn irgendwer was verkauft, anstatt sich zu ärgern, dass es nicht bei ihm/ihr selbst gekauft wurde.

Kein Vergleich zu unserer Gesellschaft hier, wo ich in meiner Tätigkeit als Vertreterin für ein neues bio-fairtrade-Getränk des öfteren in Gespräche und Diskussionen mit LadenbesitzerInnen verwickelt wurde, die sich Kooperation mit anderen LadenbesitzerInnen in ihrer Straße, ja selbst in anderen Stadtteilen, (wo sie wirklich keine Konkurrenz darstellen!) kaum vorstellen können. Das ist ja alles „Konkurrenz“.
Und das selbst angesichts der Tatsache, dass sie im selben sinkenden Boot sitzen, das gerade von großen Piratenschiffen namens Großkonzerne versenkt wird!

Alles in allem wirkt die Wirtschaft in Marokko wie eine große, familiäre Gemeinschaft, in der es Familienfehden ausgenommen nicht darum zu gehen scheint, Unternehmen der Anderen platt zu machen, sondern im Gegenteil darum, diese zu fördern, damit alle überleben.

Es gibt in dieser Gesellschaft ein (in der Religion verankertes) Auffangsystem für arme Menschen, das aus dem Alltag und Selbstverständnis der Gesellschaft heraus entsteht, und das nicht institutionalisiert ist, wie bei uns. Es ist die gemeinsame Verantwortung aller, und so auch im Koran festgeschrieben, “Sozialfälle” mitzutragen und Reichtum umzuverteilen.

Was ich vorher zwar wusste, was mir aber auch erstmals be-wusst wurde ist, dass eigentlich die Hälfte (!), ja, 50% aller anfallenden Arbeit in einer Gesellschaft, Fürsorge ist. Fürsorge für andere, vor allem für Ältere und Kinder. Sich um andere kümmern, zuhören, da sein, die alltäglichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Sauberkeit, etc befriedigen. Eine Arbeit, die natürlich auch dort unbezahlt ist und die (was eine Ehre!) den Frauen zufällt.

Frauen sind dort in dieser Rolle gefangen, ja, und das ist absolut fragwürdig.
Mein Eindruck war aber: An Status und Wertschätzung steht diese Arbeit der Arbeit der „politischen“ und „wirtschaftlichen“ Männerwelt in nichts nach. Wenn sie, die Frauen, nicht wären, das ist wohl allen klar, würde die Gesellschaft aus der Balance geraten, zusammenbrechen. Sie, die Frauen, tragen die Basis der Gesellschaft, sorgen für den Zusammenhalt. Sie besitzen Fähigkeiten, die die Männerwelt nicht besitzt, und die wichtig sind.

Die Rolle der “unpolitischen Fürsorglichkeit” wird geschätzt und respektiert, was man(n) ja in westlich geprägter Umgebung kaum behaupten kann…
Oder wer von euch hat in seinem Bekanntenkreis tatsächlich an die 50% Menschen, die freiwillig solch eine Rolle spielen und stolz darauf sind? Wieviel Prozent der Menschen in euerm Umfeld arbeiten in Institutionen, die bei uns für „Fürsorge“ zuständig sind, also in Kindergärten, Altenheimen, Krankenhäusern? Wieviel Menschen kennt ihr, die 50% ihrer Zeit damit verbringen sich um den Haushalt, die Oma und die Kinder der Nachbarin zu kümmern und nicht anderes lieber tun würden? Und wie gut können Leute von sowas tatsächlich leben?

Hier im Norden gilt:
alle bitte immer brav ausserhalb der Gemeinschaft arbeiten, Geld für die Gemeinschaft verdienen.

Arbeit für die Gemeinschaft is uncool und sollte wenn möglich outgesourct werden. Die Hälfte der Zeit in Haushalt, Kinder, Großeltern stecken? Meist nicht finanzierbar, und eher abschätzig als unbefriedigende Arbeit abgetan. Jegliche Arbeit, die kein Geld einbringt (was ja fürsorgebedürftige Menschen normalerweise nicht haben!) ist einfach out.

Emotionale Bedürfnisse befriedigen? Lasst uns lieber mal nich drüber reden, führt ja doch nur zu Streit… Fürsorge als wirtschaftlicher Faktor? Wegrationalisiert.
Krippe ab 1 Jahr, wenn möglich! Kindergarten, Schule: Papa Staat, bitte nimm uns diese Schreihälse ab! Und alte Menschen, die einsam und verlassen in ihrer Wohnung dahinvegetieren: dass es sowas gibt ist ja schon traurig, aber ist das mein Problem?

In Marokko und in den meisten Ländern dieser Welt ist die Familie mehr, als nur ein kleines Häufchen liebender, emotional aneinander gebundener Menschen, die anstreben, wirtschaftlich voneinander unabhängig zu sein. Die Familie ist eine wirtschaftliche Einheit. Und wenn eine wirtschaftliche Einheit größer ist, funktioniert sie besser. Dann hat die Gruppe mehr Ressourcen, mehr skills zu teilen, ohne dass mensch Geld ins Spiel bringen müsste. Großfamilienstrukturen führen zu mehr Kooperation und an Bedürfnissen orientiertem Wirtschaften, als es Institutionen und Unternehmen, die sich gegenseitig als Konkurrenz betrachten, es jemals hinbekommen könnten.

Aber: In der wirtschaftlichen Einheit muss es einen starken Zusammenhalt geben, und die WG-Küche wäre hier einfach undenkbar. Für Grundbedürfnisse wie das gute Essen und die saubere Küche muss gesorgt sein, sobald es fürsorgebedürftigere Menschen in der Gruppe gibt.
Wenn was nich klappt, ist das kein Problem, das dadurch gelöst werden könnten, dass eine Frau sich trennt, und die Kinder alleine großzieht, oder dadurch, dass man eine Putzfrau bezahlt.
Das kann sich nämlich beides keiner leisten und kein Staat springt dafür ein. Die Menschen müssen diese Probleme selbst lösen und sind daher wirtschaftlich viel stärker aneinander gebunden, als Menschen es sich hier überhaupt vorstellen können. Das wirtschaftliche Auskommen aller ist in Gefahr, wenn eine® nicht mitspielt.

Schleppende Diskussionen im Plenum wären eine wirklich schreckliche, existenzielle Bedrohung. Daher haben Menschen so festgeschriebene Rollen, die auch nicht mal so eben aufgeweicht werden können. Unter anderem deshalb die klare Rollenverteilung Mann-Frau. Eine “Emanzipation” a la westliche 70er Jahre-Bewegung war hier nur möglich, weil es wirtschaftlich „bergauf ging“, und alle es sich leisten konnten, im Zweifelsfall eben einfach alleine zu wirtschaften. Heute auf die Barrikaden für eine neue Weltordnung, morgen wieder nen guten Job – damals kein Problem.

Genau das passierte ja dann auch, weil bis auf ein paar kleine Kommünchen keine nennenswerten Strukturen entstanden, die die Großfamilienstrukturen als kollektivwirtschaftliche, fürsorgliche Einheiten ablösen konnten. Plötzlich hatte halt niemand, weder Männer noch Frauen, noch Lust auf „sich kümmern“. Die einen nicht, weil sie mal was anderes machen wollten, die anderen aus Angst vor Prestigeverlust, oder weil sie es einfach nicht gelernt hatten.

Rollentausch-Experimente, die -wie unschwer zu erkennen ist – hier ja größtenteils ziemlich fehlgeschlagen sind, können sich Menschen in diesen Ländern gar nicht leisten.
Zumindest nicht, wenn sie wie im Fall von muslimischen Ländern wie Marokko eine andere, auf ihre Weise „funktionierende“ Kultur haben, die sie nicht auf’s Spiel setzen wollen.

Wenn sie nicht das Risiko eingehen wollen, ihre wirtschaftliche Selbstbestimmung zu verlieren und einfach allesamt inklusive ihrer Kinder von (westlichen) Großkonzernen versklavt zu werden. In anderen ärmeren Ländern ist das ja auch der Fall: alle arbeiten halt immer nur noch für Geld, und für Haushalt, Kinder und den Opi bleibt einfach gar keine Zeit mehr. Die Kinder gehen halt einfach auch in der Fabrik arbeiten und das Familienleben findet dann eben dort statt (… oder eben nicht!!!!)

Hier, wo der Staat und die Steuergelder von Millionen GemeinschatsteilnehmerInnen für solche Fälle doch noch immer irgendwie aufkommen, ist das natürlich alles schlecht vorstellbar. Und so ist es aus unserer Sicht sehr leicht nach Frauenrechten zu rufen: womit wir aber unreflektierterweise zu meinen scheinen: Recht auf individualisiertes Geldkreislauf-Wirtschaften für alle, und Recht auf Fürsorge, Respekt für Fürsorge, Recht auf Arbeit ausserhalb des Geldkreislaufs, kurz: Recht auf “weibliche” Rolle für niemanden!

Wahnsinnige Propaganda?!?

Der Gedanke, der sich mir aufdrängt ist:
Ist das vielleicht nur die wahnsinnige Propaganda eines Systems, das sich bemüht nach und nach alle Menschen in einen Verwertungsprozess einzugliedern, der mit kleinen bunten Scheinen am Leben gehalten wird? Geht es vielleicht einfach nur darum, Menschen dazu zu bringen, keinerlei Leistungen mehr zu erbringen, die nicht in die Bezahlmaschinerie eingegliedert sind? Und sei es nur die Leistung eines notwendigen Gespräches mit einem guten Freund?

Was anderes tut denn ein bezahlter Psychologe, als das notwendige einander Zuhören in einer Gemeinschaft durch einen bezahlten Arbeitsplatz und etwas mehr Umsatz für die Pharmaindustrie zu ersetzen? Die Frauen, die das mit dem Zuhören früher gemacht hätten, arbeiten jetzt vielleicht in der Pharmafabrik. Vermutlich eher als schlecht bezahlte Sekretärin, als an der Spitze des Konzerns, aber immerhin haben sie ja jetzt Arbeit.

Seltsame Logik. Denn würde die Sekretärin aus der Pharmafabrik sich zusammen mit ihrem Mann, dem Psychiater, zu Hause mehr um ihre Kinder kümmern und weniger arbeiten, hätten sie vielleicht denselben Effekt, nur dass ihre Kinder am Ende nicht suizidgefährdet und medikamentensüchtig wären.

Langfrisitig betrachtet werden dann vielleicht die psychologischen Fähigkeiten eines Durchschnittsmenschen gegen null gehen, weil alle jetzt lieber zum netten Psychiater mit den gelben Pillen gehen, als zu ihren Freunden. Damit wird dann natürlich glücklicherweise dieser gut bezahlte Arbeitsplatz auch gleich dauerhaft gesichert, und noch ein paar für Pharmalobbyisten und die Sekretärin dazu.

Und ist das eigentliche Drama an dem ganzen Spiel: die Fähigkeiten, die vor allem (wenn auch sicher nicht nur) Frauen in ihrer jahrtausendelangen Fürsorgetätigkeit entwickelt haben, und die recht wenig mit Pillen und mehr mit zuhören und Kommunikationskultur zu tun haben, beginnen bei uns zu verkümmern.

Statt wahrer Emanzipation, in der die Männerwelt sich diese skills angeeignet und zu schätzen gelernt hätte, sind sie für einen Großteil der Menschen heuzutage (ob weiblich oder männlich) uncooler, unfinanzierbarer, zukunftsunfähiger als je zuvor.
Bis auf die paar Glücklichen, die den entsprechenden Numerus Klausus für’s Psychologie-Studium schaffen vielleicht. Aber die lernen dann ja auch mehr aus Chemie-Büchern als im Umgang mit Menschen.

Und ob die Leute dadurch nun glücklicher sind? Ich denke ja nun nicht.
Das, was wir heute als “Emanzipation der Frau” kennen, hat mit wahrer Emanzipation nicht zu tun. Klassische “weibliche” Werte und Fähigkeiten, wie eben die Fürsorglichkeit, die sich nur bei jener Form von Arbeit entwickeln, wie Frauen sie traditionell übernahmen, zählen heute nicht mehr als früher und sind genauso wettbewerbsuntauglich wie eh und je.

Und ist ein Jahr vor Gericht eingeklagter Vaterschaftsurlaub nicht ein recht mieser Ersatz, gegenüber der emotionalen Sicherheit, die ein Mensch fühlen muss, der einfach das ganze Leben lang immer fähige, fürsorge-erfahrene Leute aus der Familie um sich hatte?

Nicht, dass ich sagen wollte, dass alle muslimischen Frauen das per se besser draufhätten, als Frauen hier und dass dort alle Familien top wären, bestimmt nicht!! Aber sie müssen doch fast besser sein als hier, denn wer den ganzen Tag damit verbringt, sich um andere Leute zu kümmern, der oder die lernt das eben besser, als durch Schulbank drücken oder vor dem Computer sitzen (wie ich gerade).

Eine der bedeutendsten Fähigkeiten, die ich mir auf unserer Reise erworben habe, ist jedenfalls die, für 20 Leute zu kochen … und das wenn es sein muss auch mit Rücksicht auf VegetarierInnen, VeganerInnen, AllergikerInnen, usw …
Eine andere ist z.B. die Fähigkeit, in einem Wirrwarr aus Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen in einer großen Gruppe, sich selbst nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Die Fähigkeit, selbst in so einem emotionalen Chaos noch halbwegs besonnen zwischen meinen Gefühlen und Bedürfnissen und denen Anderer unterscheiden zu können – was ich vorher wirklich gar nicht gut draufhatte.

Ich denke, was z.B diese beiden Fähigkeiten angeht, können wir von all den Kulturen, die der vom Westen inspirierte Konsumwahn gerade ausrottet, eine Menge lernen …

Geht es denn nur um sexuelle Freiheit?

Jetzt kommt natürlich berechtigterweise! wieder das Gegenargument zu Gesellschaftsformen wie der in Marokko: aber ich will doch frei sein von dieser scheinheiligen Prüdheit, der einengenden Keuschheit, dieser merkwürdigen Moral traditioneller Gesellschaften…

Aber halt: haben wir das, was dort ist (in Marokko zum Beispiel), denn überhaupt verstanden?
Können wir das überhaupt verstehen können? Verstehen wir, wir als EinzelgängerInnen, die keine Ahnung von Gemeischaftsleben mehr haben, wie es zu dieser Moral erst gekommen ist? Verstehen wir unsere Großeltern, wenn sie jammern, was früher alles besser war? Können wir es uns denn wirklich vorstellen? Und vor allem: sind wir nicht genauso verdammt prüde, nur eben anders, und merken es gar nicht??

Noch ein paar mehr Eindrücke aus Marokko, die meine Weltsicht ein bisschen auf den Kopf gestellt haben:

Auch die Erfüllung emotionaler Bedürfnisse, wie die nach Körperkontakt, scheinen einfach komplett anders gelöst zu sein als hier – und anders, als ich dachte, vor allem.
Treue ein Leben lang? Nein, auch in dieser Gesellschaft haben die Menschen durchaus erkannt, dass Körperkontakt mit nur einer Person auf Dauer unbefriedigend sein kann, und was wir uns hier vorstellen entspricht nicht unbedingt hundert Prozent der Wirklichkeit dort.

Alte Männer laufen händchenhaltend auf der Straße, küssen sich auch manchmal.
Frauen waschen sich im „Hammam“ (traditionelle Bäder) gegenseitig von Kopf bis Fuß und fassen sich dabei sehr ungeniert auch an Stellen, wo frau sich als westlich geprägtes Wesen sehr wundern muss. Wo hier eine Umarmung zum Abschied und eine Massage am Abend oft die Grenze des Erlaubten sind, ist mensch dort schon -zumindest wenn mann/frau unter sich ist – wesentlich enger und intimer.

Und auch wenn die Frage nach selbstverständlichem, nicht sexuell motiviertem Körperkontakt unter gleichgeschlechtlichen Menschen schwer zu beurteilen ist, wenn wir auch Homosexualität als eine Spielart von Sexualität zulassen, so ist es doch eine irgendwie wünschenswerte Gelassenheit, mit der Menschen in Marokko mit diesem Bedürfnis nach körperlicher Nähe umgehen.

Ob es nun wünschenswert ist, dass wir diese Art von Freiheit gegen die eines unverbindlichen One-night-Stands eingetauscht haben sei dahingestellt, das muss jede® für sich entscheiden.

Ich habe inzwischen eine recht klare Meinung hierzu.
die Freiheit einfach jede(n) mal vögeln zu dürfen, statt bis ans Lebensende treu sein zu müssen, ist selbst wenn ich sie nicht missen will kein Ersatz für eine gewisse Selbstverständlichkeit, mit der Menschen sich gegenseitig berühren dürfen, ohne gleich Sex haben zu wollen.

Ich persönlich habe (aus Erfahrungen heraus) große Hemmungen, ja Angst, Menschen körperlich näher zu kommen, weil ich immer gleich denke, dass der/die Andere es gleich falsch wertet, und ein Gang seinen Lauf nimmt, den ich so nicht beabsichtigt habe. Seit ich bisexuelle Züge bei mir selbst entdeckt habe, geht es mir auch mit anderen Frauen so. Und wer sich jetzt fragt, warum ich es nicht einfach besser mache, wenn ich schon so schlau daherrede, sollte allerhöchstwahrscheinlich ersteinmal sich selbst und seine Ängste an der eigenen Nase greifen: etwas mehr gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für solche Themen würde mir zumindest sehr helfen, denn Swingerclubs als Konzept sind für mich einfach keine Lösung…

Die Lachfalten, die alte Menschen in Marokko ihren Gesichtern tragen, sind für mich der beste Beweis, dass es vielen Leuten, trotz geringerem Lebensstandart, emotional wesentlich besser geht. Wenn ich mir in meinem Umfeld alte Leute betrachte, ist der Prozentsatz derer, die die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben haben, um vieles geringer. Die Regel ist eher ein verkniffener, verbitterter, oder trauriger Ausdruck.

Ein Mann, den ich einmal nach seiner Meinung über Europa fragte, erwiderte sehr ehrlich: „Ich habe große Angst vor Europa. Ich war noch nie da, aber ich kenne viele, die dort waren. Die Menschen dort sind allein. Ich bin nicht allein“.

Utopia ?

Nun, das beginnt nahezu wie ein Plädoyer für islamische Gesellschaften zu klingen, ist es aber natürlich nicht. Natürlich ist die Gesellschaft dort auch nur anders, und kein Stück besser.
Diese Rollenbilder sind natürlich alles in allem sehr fragwürdig und ich bin natürlich keinesfalls dafür, sie hier wieder einzuführen – das würde es unmöglich machen, dass ich als „Frau“ umherreise, Texte schreibe und versuche die Welt zu verändern…

Marokko hat eine Gesellschaft, die mehr auf Gemeinschaft ausserhalb von Kommerz setzt,
aber keine, die meinen Ansprüchen an eine Gemeinschaft genügen würde. Dafür sind die Rollenstrukturen dort einfach zu festgefahren und wenig frei und individuell.
Wir haben nicht zuletzt auch deshalb eine individualistische Gesellschaft, weil Menschen vor uns versucht haben festgefahrene Hierarchien und enge Rollenbilder in der Gemeinschaft abzubauen. Das ist ihnen zwar nur ansatzweise gelungen, aber den Versuch war es, finde ich, sehr wert!

Es ging mir darum, Unterschiede zu unserer individualistischen Gesellschaft herauszuarbeiten, und anhand dieses Vergleichs zu zeigen, woran es meines Erachtens in westlichen Gesellschaften hapert – bzw Inspirationen zu geben, was wir verbessern könnten. Und vor allem, denn das ist ja das Thema dieser Broschüre: zu zeigen, dass es Wissen gibt, das akut bedroht ist, und das wir für unsere Traumgesellschaft schon brauchen werden!

Und ich glaube, dass vieles von diesem Wissen in der Tätigkeitenwelt zu finden ist, die früher als „weiblich“ definiert war. Ich glaube auch, dass Frauen das, was ihnen vielleicht noch an Wissen mitgegeben wurde, schnell auf eine andere Stufe von Wertschätzung heben sollten: der Männerwelt endlich einmal das mit dem „Andere versorgen“ schmackhaft machen und als das zur Geltung bringen, was es tatsächlich ist: eine sehr befriedigende Tätigkeit! Und nichts wofür man sich schämen müsste!!

Selbiges gilt natürlich für alle Männer, die sich in dieser Hinsicht als „weiblich“ definieren, also, die ebenfalls was über Fürsorglichkeit in Gemeinschaften wissen.

Die Frauenrechtsbewegungen früherer Generationen, die Kommune-Bewegung, die freie Liebe Bewegung, … sie alle, die massgeblich zu dem beigetragen haben, was heute ist, haben sich sicher ihre Utopie ganz anders vorgestellt, als das, was sie erreicht haben (zB dass pornografische Werbung mit magersüchtigen Frauen an jeder zweiten Straßenecke hängt).

Und der Grund hierfür ist ganz logisch und einfach: es ist schlicht und ergreifend einfach nicht möglich, die Ideale der Feministinnen in den 70ern von zB denen der antikapitalistischen Bewegungen oder denen der Kommunebewegung zu trennen. Diese Bewegungen gehören untrennbar zusammen, haben sich gegenseitig beeinflusst- und die Art der Gleichberechtigung, die sie sich die Menschen wünschten, gingen weit über das hinaus, was in einer industriell-kapitalistischen Gesellschaft überhaupt möglich ist.

Kommunikation!

Gehen wir also zurück zum Anfang, zur dreckigen WG-Küche, zu unserm Wunsch uns nicht mehr so allein zu fühlen, Gemeinschaft zu leben und fügen wir den Wunsch hinzu, eine freiere Gemeinschaft leben zu wollen, in der wir den Individualismus, an den wir uns gewöhnt haben, ein Stück weit mitnehmen können.

Das absolut Neue an einer Gesellschaft, die individuelle Freiheiten ermöglichen, die Hierarchien abbauen und feste Rollenbilder abschaffen, und die dabei trotzdem kollektiv wirtschaften, Ressourcen teilen, gemeinschaftlich leben will, … wäre, dass diese eine Form von Kommunikation erforderte, die es in dieser Form in früheren Gesellschaften wahrscheinlich nie gegeben hat. Zumindestens wüsste ich keine Gesellschaftsform, wo das Sinn gemacht hätte.

Ganz früher, in naturbezogenen Stammeskulturen, egal ob mit ausgeprägter oder eher schwacher Hierarchie, dürften diese Art von Gesprächen keine so hohe Relevanz gehabt haben, denn dort gab es einfach nicht so viele verschiedene Möglichkeiten der Spezialisierungen und unterschiedliche Lebenswege wie heute, über die Gruppen sich hätten verständigen müssen.

D.h damals gab es sicher noch verschiedenste interessante Ansätze von Kommunikationsprozessen und Rollenaufteilungen, aber sie waren einfach sicher weniger wirr und mehr auf ein stabiles, real existierendes Gemeinschaftsgefüge mit klarer Ausrichtung bezogen: Ein Softwarekollektiv in einer sich täglich verändernden Welt ist schon etwas ganz anderes, als eine Gruppe, die im Dschungel nach jahrtausendealten Traditionen und Bräuchen ihr bescheidenes Leben lebt. Die Entscheidung ein Softwarekollektiv oder einen Biobauernhof zu gründen kann eine Gruppe ganz gut spalten, egal wie sehr Menschen sich nun lieben und ne Gemeinschaft leben wollen.

In der klassischen nicht-individualistischen, hierarchischen Großfamilienkollektivwirtschaft, sind die Bedürfnisse des Kollektivs/der Familie einfach wichtiger als individuelle Bedürfnisse, und da niemand sich so leicht ausklinken kann, müssen Menschen sich eben anpassen. Eine® oder eine kleine Gruppe entscheidet der Einfachheit der Kommunikationsprozesse halber, wo’s langgeht. Das funkioniert für eigentlich jede Art von wirtschaftlichem Familienbetrieb ganz gut, wenn wir unsere Ideale mal ausser acht lassen.
Jede® bekommt einfach eine irgendeine fixe Rolle im Familiengefüge, ob er oder sie will oder nicht, und basta. Das garantiert, dass alle wichtigen Funktionen erfüllt sind.

In der individualistisch-kapitalistischen Gesellschaft, sind Menschen eigentlich auch stark voneinander abhängig, aber merken es gar nicht mehr so genau, da sie allein dafür verantwortlich sind, sich zu überlegen wie sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können. Die Gesellschaftsstruktur ist dabei so verschachtelt und abstrakt geworden, dass keine® mehr direkt merkt, wann er/sie eigentlich Bedürfnisse Anderer verletzt.

Der „Fürsorge-Faktor“ und in anderen Gesellschaftformen unbezahlte Arbeit werden zunehmend auf Institutionen umverlagert und alles so in einen zentralen Geldkreislauf integriert – in das einzige Alle verbindende Element der Gesellschaft. Hierarchische Strukturen sorgen dafür, dass der technische „Fortschritt“ der Gesamtgesellschaft wichtiger wird als individuelle Bedürfnisse Einzelner, die den meisten gar nicht mehr richtig bewusst sind. Die Menschen versuchen auch emotionale Bedürfnisse über Konsum zu regeln und scheitern schon oft an der simpelsten Kommunikation mit ihren eigenen Kindern – Gemeinschaft wird verlernt.

Der Versuch eines hierarchischen, staatlich geregelten Sozialismus-Systems (a la Sowjetunion, etc) dürfte irgendwo zwischen der Großfamilienwirtschaft und der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur anzusiedeln sein. Er enthält Elemente aus beiden Gesellschaftsformen, aber ist an sich nichts großartig neues/anderes. Auch Marx hat halt keine Altenpfleger-Ausbildung, sondern ein Jura-, Philosophie- und Geschichte-Studium hinter sich gehabt…

Worum es bei Streits um die WG-Küche und auch in selbstorganisierten Projekten, wie wir sie besucht haben, die sich in irgendeiner Form kollektiv organisieren oder gar kollektiv wirtschaften wollen, eigentlich meist geht, sind diese Themen:

Es geht um Rollenverteilungen in einer zunehmend verwirrenden Welt, in der die ursprüngliche klaren Rollenverteilungen auf den Kopf gestellt wurden, und in der viele junge Menschen (inzwischen unabhängig davon ob männlich oder weiblich) nie gelernt haben, wie mensch etwas anderes als Nudeln mit Pesto kocht, was halt einfach kein Zustand ist. Es geht um verschiedene materielle und emotionale Bedürfnisse, und um verschiedene Arten und Weisen, diese Bedürfnisse auszuleben und zu kommunizieren.
Wenn wir Gemeinschaft wollen, dann geht es darum, sie alle unter einen Hut zu bekommen…

Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für Bedürfnisse von Menschen, die in der Weltsicht, mit der wir groß geworden sind, nicht in unserem Verantwortungsradius liegen. Menschen, die nichtmal zu jener kleinen Bluts-Familie gehören, für die wir uns ja auch schon wirtschaftlich und emotional kaum mehr verantwortlich fühlen.

Es geht darum, einzusehen, dass wir keine Gemeinschaft haben können, die ohne die 50% Fürsorge-Zeit auskommt (oder sagen wir mal mindestens 30%, das wär ja schon was!) Es geht darum diese Fürsorge-Rollen zu besetzen, und den Menschen, die sie besetzen wirschaftlichen Halt zu geben.

Ob das nun institutionalisiert wird und mit Geld geregelt oder nicht ist dabei eigentlich nicht vorrangig wichtig. Glaubwürdiger und für fürsorge-bedürftige Menschen schöner ist es sicher, wenn das wie in Marokko aus einem Selbstverständnis der Gemeinschaft, aus einer Kultur heraus, entsteht, als durch finanzielle Interessen.

Es geht darum, Vertrauen aufzubauen, durch Kommunikations- und Organisationsstrukturen, die möglichst effizient, möglichst frei und individuell, möglichst emotional befriedigend, möglichst flexibel, möglichst hierarchiearm sind.

Und wo is Gott, wenn wir ihn brauchen?!?

Uffffff…

Und das alles auch noch in einer Welt, in der jegliche spirituelle Grundlage für irgendeine Art von gemeinsamer Kommunikation über “richtig” und “falsch” fehlt, was auch eine Art Novum in der Geschichte ist. Von Christentum wollen wir mal gar nicht erst reden, aber nun ist selbst der kalte Krieg vorbei und wir können uns auch kaum mehr als Kommunisten fühlen und unser Welt- und Gesellschaftsbild danach ausrichten … Also, ich meine, Gott ist ja nun schon wirklich lange tot, aber in Zeiten wie diesen vermissen wir schon ab und zu jemanden, der einfach mal von ganz, ganz oben eine Anweisung schickt, wie das denn nun weiterzugehen habe.

Nein, stattdessen müssen wir die Weltordnung, die wir auf den Kopf gestellt haben, nun tatsächlich komplett neu schaffen, aus einem philosophischen Nichts heraus, in dem die Naturwissenschaft erst die Religionen, und dann mit der Quantenphysik auch noch sich selbst widerlegt hat.

Und wir fühlen uns auch noch total allein und unsicher dabei, weil wir ja die Gemeinschaft, mit der zusammen das mit dem „Weltbild schaffen“ vielleicht leichter ginge, gerade nicht haben – weil wir diese ja beim auf den Kopf stellen erstmal zerstört haben!

Es scheint einfach jegliche Grundlage zu fehlen, auf die wir kollektives Wirtschaften, kollektives Leben, und die damit einhergehende nötige Kommunikation und Rollenverteilung aufbauen könnten. Diese Rollenverteilung selbst ist, das ist uns soweit klar, bis zu einem gewissen Grad nötig und nicht wegzudenken, wenn wir unsern komplex arrangierten Lebensstandart, der ohne komplexe Technik und Spezialisten nicht auskommt, beibehalten wollen.

Und den müssen wir beibehalten, wenn wir nicht die Alten, die Kranken, die ganzen “Behinderten” (inklusive der Brillenträger und so weiter), diskriminieren wollen, die in einer primitivistischen Gesellschaft gar nicht überlebensfähig wären. Also: lieber niemals vom Baum runtergekommen, ja vielleicht – aber zurück auf den Baum? Niemals!

Dem Ausleseprozess der Natur haben wir einen anderen entgegengesetzt, der nur durch faschistoides Denken wieder ausradierbar wäre. “Back to the roots” ist also keine wirkliche Lösung für Idealisten. Und jede®, der/die schonmal eine(n) RollstuhlfahrerIn über eine hügelige Wiese geschoben hat, weiss dass Hippie-Natur-Fantasien sich überholt haben.

Überholt?
Ganz Hippietopia?
Nein!

Ein paar klitzekleine Aspekt des Hippietums sind mir als lobens- und lebenswert ins Auge gefallen: nämlich die Vorliebe für Trancezustände, und für erweitertes Wahlfamilientum. Peace Brothers and Sisters!

(to be continued)