Es war Herbst, die Leute in Bern trugen wieder ihre schwarzen Mäntel. Passten sich
dem Himmel an, der Ton in Ton mit der grauen Stadt den letzten Hauch des Sommers
verjagte.
“Gibt es Menschen mit grauen Gesichtern?” fragte mich heute Lua, meine Tochter. Ich
sagte “nein”. Das war gelogen. Es gibt sie.
Ich schlängelte mich mit Papier und Stift durch die Massen. Sammelte Unterschriften
für eine Initiative “6 Wochen Ferien im Jahr anstatt 4.” Redete mir den Mund fusslig
obwohl ich nicht verstehen kann, wie man sich mit 6 Wochen zufrieden geben kann.
Hörte mir Vorträge über die Wirtschaftssituation und die faulen Jugendlichen an, die
bloss noch machen wollen, was ihnen Spass macht. Versuchte, fröhlich zu bleiben,
unterdrückte den Drang, einfach los zu schreien und wild durch die Gassen zu tanzen.
“Ich brauch das Geld, ich brauch das Geld, ich muss meine Miete bezahlen. Essen für
Lua. Ich muss arbeiten. Ich muss, ich muss…” hämmerte ich mir immer wieder in den
Kopf, steckte mir Musik in ein ohr und machte weiter. “Guten Tag, konnten Sie schon
unterschreiben?…”

Da sah ich eines Tages schon von weitem zwei Menschen, die in meine Richtung
spazierten. Ich wollte sie unbedingt ansprechen. Endlich mal wieder zwei, die sich
von der Masse abhoben. Bei denen ich mich nicht verstellen musste.
Sam und Anja…
Lebendige Augen blitzten unter Mütze und Kapuze hervor und sie erzählten mir
irgendwas von einem Netzwerk. Von freiem lernen, von Reisen, einer Gruppe, die mit
Bussen unterwegs ist. “Ja, ja! Ich überleg mir die ganze Zeit, wie man Leute
vernetzen könnte. Wie wir uns alle zusammentun könnten…” sprudelte es aus mir
hervor. Anja grinste mich an und sagte: “Das passiert bereits!”
Sie gaben mir einen Zettel mit Infos über das Projekt “Travelling School of Life”,
schrieben mir ihre Mailadresse darauf und zogen weiter.
Ich schaute ihnen lange nach. Strahlend übers ganze Gesicht, völlig aufgedreht,
glücklich. Hüpfte noch ein wenig durch die Leute und beschloss dann, dass ich genug
gearbeitet hab für diesen Tag.

Kaum zuhause schrieb ich ihnen eine Mail und freute mich unglaublich, als ich kurz
darauf eine Antwort erhielt. Sam schrieb, dass sie nun nach Frankreich gingen und
ich mit Lua doch gleich mitkommen solle.
? Wie, was? Lua und ich mit diesen Leuten unterwegs? Leute, die ich bereits so
mochte ohne sie wirklich zu kennen? Ähm aber meine Arbeit? Meine Wohnung, Band,
etc.?
Und sowieso – die sind alle so jung und haben doch keine Ahnung, was es
heisst, mit einem Kind unterwegs zu sein!”

Ich zerbrach mir den Kopf weil ich den unglaublich starken Drang spürte, alles
stehen und liegen zu lassen um in diesen Bus zu steigen und trotzdem das Ganze,
woran ich gebunden war, so stark war.

Schlussendlich beschloss ich, die Skillsurfers einfach mal ohne Lua zu besuchen.
Packte meinen Rucksack und fuhr mit dem Zug nach Lyon, wo sie gerade “La Friche”
besuchten. Riesige Fabrikhallen voller Kunst und KünstlerInnen.
Ich war überwältigt! So viel geballte Kreativität hatte ich vorher noch nie gesehen!
Alles war ein einziges, riesiges Kunstwerk!
Die Leute der Skillsurfers waren in und um die Hallen verstreut. Jeder in einem
anderen Film. So völlig verschiedene Menschen. Wunderschön…
Eigentlich war ich ja dort, um mir diese Leute mal etwas genauer anzusehen. Um
herauszufinden, ob es möglich wäre, dass Lua und ich uns ihnen für ne Weile
anschliessen würden.
Doch ich wollte viel lieber durch die Hallen gehen. Mit grossen Augen alles
bestaunen. Peter schloss sich mir an und wir gingen und gingen… Ab und zu machten
wir eine Pause in einem alten Bus, der zu einer Küche umgebaut war, in der sich
immer wieder neue Leute bei einem Tee etwas unterhielten um dann schon bald wieder
ihren eigenen Weg zu gehen.

Nach drei Tagen verliess ich sie wieder. Irrte glücklich durch Lyon bis ich den
Bahnhof doch noch fand… Und reiste zurück nach Hause.
Mein Kopf war voll mit Bildern. Und es riss mich noch viel mehr. Weg von all dem
hier. Von diesem starren, eingefahrenen, grauen Trott.

Immer wieder schrieben mir Sam, Anja und Peter, dass wir einfach kommen sollen. Und
ich las jede Nachricht voller Freude. Um kurz darauf in eine Krise zu fallen weil es
mir unmöglich erschien, alles loszulassen. So sehr hatte ich meine Freiheit schon
aufgegeben. Ich verzweifelte fast wegen mir selber weil ich merkte, wie ich mir
selber im Weg stehe mit meinen Ängsten und Zweifel.
Alles in mir schrie: “Geh! Geh!”. Aber ich blieb.
Doch in mir wurden alle meine Träume wieder wach. Träume von einem freien Leben.
Einem Leben in einer Gemeinschaft. Einem Leben unter Menschen, die mehr wollen als
Arbeit, Wohnung und Sicherheit. Menschen, die sich treiben lassen im Lebensfluss,
die mit der Natur leben und nicht gegen sie.

Anja und Sam sind inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt.

Ich habe Wohnung und Job gekündigt, hab Lua aus dem Kindergarten genommen und in
einer Woche reisen wir los richtung Matavenero / Spanien…
I love you all!