Bezugsgruppenkonzept

workshop von Christoph auf dem Sommerforum 2012

Inhalt

Bezugsgruppenkonzept in den sozialen Bewegungen

Der Zusammenschluss von Menschen in Bezugsgruppen ist eine weit verbreitete Praxis auf Demonstrationen, Sitzblockaden, politischen Camps und direkten Aktionen und vielen vielleicht aus dem Wendlandwiderstand oder der Blockade des G8-Gipfels in Heiligendamm vor einigen Jahren bekannt. Eine Bezugsgruppe kann dabei helfen sich gut auf eine Aktion vorzubereiten, sich während der Aktion gegenseitig zu schützen und in der Nachbereitung einen Raum für Reflexion bieten: So können z.B. Erfahrung, Wissen, Essen und Gefühle geteilt werden. Gleichzeitig sind Bezugsgruppen oft die kleinste Einheit in einem Netz verschiedener Bezugsgruppen und können so zur effizienten Entscheidungsfindung in großen Gruppen beitragen. Bezugsgruppen erlauben in Aktionen zu bestehen und sind somit ein wichtiger Baustein um Handlungsfähigkeit zu entwickeln.

Der (Schul-)Alltag als konfrontative Situation

Während der beschriebenen Aktionen befinden sich Bezugsgruppen oft in Situationen, die sie als bedrohlich empfinden: Eine Sitzblockade soll von Polizist_innen geräumt werden, während der Gegendemonstration anlässlich eines Naziaufmarsches wird auf einmal ein Wasserwerfer eingesetzt usw.
Doch auch Erfahrungen im (Schul-)Alltag werden von Menschen als bedrohlich empfunden. Der Wunsch in der Erwerbsarbeit zu bestehen kann nur um den Preis erfüllt werden, sich bestimmten Normierungen und Unterwerfungen zu unterziehen. Als Lehrer_in wird bspw. an mich die Anforderung herangetragen pünktlich bei der Arbeit erscheinen, Schüler_innen zu disziplinieren und mit Noten zu bewerten. Insbesondere das Referendariat wird von vielen als eine intensive Zeit einer solchen als problematisch empfundenen “Subjektivierung” wahrgenommen (vgl. Text von Barbara “Die Institution soll nicht durch mich durchmarschieren” in: Kritische Lehrer_innen: Kein Handbuch).

Praxis der Bezugsgruppen im (Schul-)Alltag

In Analogie zur bewährten Praxis der Bezugsgruppenbildung auf Demonstrationen etc., bestehen im Kontext des InSeL (und darüber hinaus) auch Bezugsgruppen, die sich in solchen Alltagssituationen unterstützen: Kollegiale Beratung, Aktives Zuhören und Co-Counseling sind nur ein paar Namen von Methoden, die eingesetzt werden, um als problematisch empfundene Situationen der Schulpraxis aufzuarbeiten und Handlungsfähigkeit (zurück) zu gewinnen.
Gleichzeitig ist es denkbar, dass durch einen Zusammenschluss von verschiedenen Bezugsgruppen aktiv “Symbole” der Unterwerfung (wie etwa ein Vereidigungsakt) angegriffen werden können. Auf diese Weise könnte ein äußeres Zeichen des Nicht-Einverstandenseins gesetzt und ein innerer Widerstand gegen die Identifizierung mit äußeren Anforderungen errichtet werden.

Theoretische Anknüpfungspunkte

Die beschriebene Praxis lässt sich theoretisch mit Hilfe gängiger (kritischer) Machttheorien fassen:

  • Michel Foucaults Werk bietet ein Begriffssystem an, mit dem sich Macht als beziehungsförmig denken lässt. Macht wird nicht von einem Subjekt auf ein anderes ausgeübt, sondern die Subjekte bilden sich in einem Prozess der sowohl unterwerfend als auch ermöglichend wirkt. Ein Beispiel für eine solche “Subjektivierung” ist die Reproduktion von Geschlecht: An Menschen wird durch ihre Umwelt die Anforderung herangetragen sich als männlich oder weiblich zu identifizieren und mit einer entsprechenden Festlegung werden Möglichkeitsräume für konformes Verhalten abgesteckt.
  • Judith Butler ergänzt dieses Machtverständnis durch die Charakterisierung von Subjektivierungsprozessen als performative Prozesse. Die Normen, die uns bspw. an ein Geschlecht binden, werden durch ihr wiederholtes Zitat fortgeschrieben. Rituale, wie die erwähnte Vereidigung, lassen sich so als “Aufführungen” beschreiben, in denen Subjektivierung inszeniert wird und wir durch unsere Beteiligung daran einen “eigenen” Beitrag zu unserer Unterwerfung leisten. Da eine Norm nie vollständig identisch zitiert wird, bieten (leicht) abweichende Aufführungen ein Potential der Verunsicherung und ermöglichen eine graduelle Veränderung der Normen.
  • Hannah Arendt vertritt einen Machtbegriff, der vor allem Handlungsfähigkeit durch den Zusammenschluss verschiedener Menschen beschreibt.

Bedenken der Teilnehmenden

Als Kritik am beschriebenen Bezugsgruppenkonzept wurde die Abneigung geäußert, durch eine Beteiligung am kritisierten System dennoch Herrschaft auszuüben und diese unter Umständen durch das Bezugsgruppenkonzept noch zu stabilisieren.
Auch wurde der Wunsch als problematisch empfunden, durch den Zusammenschluss von Bezugsgruppen immer “mächtiger” im Sinne von Arendt zu werden und damit eine politische Intervention nicht nur auf die eigene Praxis zu beziehen.

“Was kann das Konzept?”

Es wurde von positiven Erfahrungen mit dem Bezugsgruppenkonzept im Kontext eines politischen Sambanetzwerkes berichtet. Als Faktoren, diese positiven Erfahrungen begünstigen wurden benannt:

  • Offenheit des Netzwerkes durch die Verständigung auf lediglich wenige gemeinsame Prinzipien,
  • ein Aktionskonzept (Musik und Verkleidung), das auf Außenstehende häufig ansprechend wirkt,
  • Selbstorganisationserfahrungen und eine Kommunikationskultur, die als “ermächtigend” wahrgenommen werden können.

Eventuell werden diese Einschätzungen von Bezugsgruppen im InSeL-Kontext geteilt.

Vertiefung

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    Nicht im workshop thematisiert, aber meiner Meinung nach produktiv, ist die Unterscheidung von Politik und Polizei, die Jacques Rancière trifft. Mit dem Begriff der Polizeiordnung beschreibt er die Struktur, in der gehandelt werden kann ohne die unterschiedlichen Teilhabemöglichkeiten von Gruppen an der Gesellschaft in Frage stellen zu müssen. Politik meint die Thematisierung der “Sprachlosigkeit” einer Gruppe in der bestehenden Polizeiordnung und den Moment der Errichtung einer neuen Aufteilung der Teilhabemöglichkeiten. Bereits auf der sprachlichen Ebene wird deutlich, dass Polizist_innen, die auf einer Demonstration eine Straße abriegeln eine ähnliche Funktion erfüllen können, wie Lehrerkolleg_innen, die an einer bestimmten Bewertungspraxis festhalten wollen. Bezugsgruppen müssen sich also sowohl auf Demonstrationen, als auch im Alltag mit der “Polizei” auseinandersetzen.