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Einleitung

Seit dem Sommer 2009 läuft unter dem Motto militant reflection eine europaweite Veranstaltungsreihe, in der über Strategien und Perspektiven autonomer/anarchistischer/linksradikaler Politik diskutiert wird. Über die dezentrale Organisation der Debatten und deren Dokumentation soll mit der Zeit eine bewegungsweite Auseinandersetzung entstehen, die sowohl praktische wie theoretische Bestandteile umfasst. Dabei soll über die Dezentralität der Veranstaltungen eine direkte Umsetzung gewonnener Erkenntnisse und eine lokale Verankerung erreicht werden, während zugleich durch die Auswertung, Veröffentlichung und Übersetzung der Diskussionen ein überregional/international vernetzter Diskurs entstehen soll. Entwickelt wurde das Konzept aus einem Kreis bestehender und ehemaliger dissent!-Zusammenhänge.

Nach den ersten militant reflection-Stationen, die in Paris, Freiburg und der Region Altmark/Wendland durchgeführt wurden, fand am 6./7. Februar ein Veranstaltungswochenende in Bremen statt. Insgesamt kamen an beiden Tagen ca. 70 Personen zusammen, überwiegend aus Bremen jedoch auch aus anderen Orten. Um eine gemeinsame, selbstbestimmte, themen- und gruppenübergreifende Debatte zu ermöglichen, wurden einige für autonome/anarchistische/linksradikale Kongresse untypische Methoden zur Strukturierung der Tage gewählt: Eine gemeinsame Themenfindung in Kleingruppen, das Zusammentragen und Sortieren der Themenblöcke im Plenum; die anschließende Diskussion der einzelnen Themenblöcke in wechselnden Gruppenkonstellationen in sog. World Cafe-Runden, um möglichst vielen Teilnehmenden eine Beteiligung an den Debatten zu ermöglichen; die vertiefende Diskussion einzelner, wiederum im Plenum beschlossener Themen in Arbeitsgruppen.

Im folgenden soll das Bremer Veranstaltungswochende dokumentiert werden. Dabei sollen zunächst die wichtigsten Schlaglichter aus den Diskussionen des gesamten Wochendes zusammengefasst werden, darauf die Themenschwerpunkte einzeln behandelt (ausführliche Zusammenfassungen der einzelnen Themen befinden sich unter we.riseup.net/militant_reflection ). Im Anschluss folgen konkrete Ergebnisse und eine knappe Schlussbetrachtung.

Schlaglichter der Diskussion

Eine Reihe von Themen zog sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Phasen des Wochenendes. Diese sollen im Folgenden besonders hervorgehoben werden.

Vor allem Aspekte der Selbstkritik an linksradikalen Strukturen tauchten in den unterschiedlichen World Cafe-Runden und Arbeitsgruppen immer wieder auf. Insbesondere die Offenheit bzw. Abgeschlossenheit der „Szene“ und die daraus resultierende Unterscheidung zwischen „ihr“ und „wir“, die zur Abgrenzung gegenüber anderen führe, wurde wiederholt kritisch diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde auch der Zwiespalt zwischen der Notwendigkeit einer Offenheit/Öffnung als Voraussetzung jeder Gesellschaftsveränderung einerseits, sowie dem Selbstschutz und der Sicherheit vor Repression und Überwachung andererseits problematisiert. Als hinderlich sowohl für interne Debatten wie auch für den Zugang von „Außen“ wurde ein im Mündlichen und Schriftlichen weit verbreiteter elitärer, szenespezifischer oder akademischer Sprachgebrauch betrachtet.

Im Kontext von Außen- und Selbstwahrnehmung kam häufig die Frage auf, inwiefern medial konstruierte Bilder „unsere“ Eigenbetrachtung und Handlungsformen beeinflussen.

Als schwierig wurde immer wieder die Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten und Projekte (Bündnisse, Kampagnen etc.) und die ihr innewohnende Problematik der Kapazitäten- und Ressourcenverteilung bezeichnet. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf den eigenen Leistungsansprüchen in und an der politischen Arbeit, so würden Leistungsdruck, Überforderung und Ängste selten thematisiert. Zu Überlastung und Burnout trügen auch typische Merkmale linksradikaler Politik wie Kampagnenpolitik und Eventvorbereitung bei. Zu letzterem wurde zudem das Ziel formuliert, den Protest über Eventmobilisierungen hinaus auch an weniger prominente Orte zu tragen.

Zudem wurde die Bedeutung gruppenübergreifender „szeneinterner“ Diskussionen häufig thematisiert und die Wichtigkeit kontinuierlicher Strategiedebatten hervorgehoben. Generell überwog die Einschätzung, dass es mehr Vernetzung und Zusammenarbeit brauche und weitere Diskussionsveranstaltungen im Stile des Wochenendes wünschenswert wären. Ein allgemeines Ergebnis der Diskussionen war auch, verfügbare technische Möglichkeiten zu nutzen. Auf lokaler Ebene wurde endofroad.blogsport.de als gutes Kommunikationsmedium gewertet. [Update: Kurz nach der MR und unabhängig von ihr erschien mit „LaRage“ ein neues autonomes Zeitungsprojekt für Bremen.]

Selbstreflektion

In der Auseinandersetzung zum Thema Selbstreflektion tauchten wiederholt verschiedene Widersprüche auf.

Unter anderem wurden permanente Widersprüche im Spannungsfeld zwischen politischem Selbstverständnis und eigener Lebensrealität genannt. Dabei stach besonderes das Missverhältnis zwischen radikalem Anspruch und dem oft keineswegs radikalen individuellen Alltag hervor, insbesondere bezüglich eigener Zwänge wie Lohnarbeit oder Reproduktion. Für den Versuch, den eigenen Alltag zu radikalisieren, wurde die Bedeutung von Strukturen wie z.B. Zentren, Projekten, Solidaritätsnetzwerken, Kollektiven oder Kommunen, hervorgehoben. Des weiteren wurde auch hier die Frage aufgeworfen, inwieweit medial konstruierte Bilder „unsere“ Selbstwahrnehmung und Handlungsweisen beeinflussen.

Ein Schwerpunkt der Selbstkritik lag auf der von vielen wahrgenommenen Reproduktion gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen in linksradikalen und libertären Zusammenhängen. Festgemacht wurde dies besonders an ausgrenzenden Szeneidentitäten und Zugehörigkeitskriterien wie Habitus, Alter und Leistungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang wurden u.a. auch erlebnisorientierte Aktionsformen und Beschaffenheit der Freiräume (fehlende Barrierefreiheit, nicht kinderfreundlich etc.) kritisiert. Als wichtiger Aspekt der Konstruktion einer Szeneidentität wurde auch Sprache betrachtet, die in Wort und Schrift oftmals elitär, szenespezifisch oder akademisch und somit ausgrenzend sei. Leistungsansprüche in der politischen Arbeit wurden in der Selbstreflektion ebenfalls immer wieder thematisiert.

Daran anschließend wurde die Offenheit bzw. Abgeschlossenheit der Szene diskutiert. Hier gab es die These, subkulturelle Abgeschlossenheit sei durch offene Kommunikation und offenes Auftreten zu ersetzen. Zugleich wurde die Debatte im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Öffnung und der Notwendigkeit von Selbstschutz geführt. In dieser Debatte zeigte sich sowohl, dass es eine allgemeine Kritik an der wahrgenommenen Abgeschlossenheit gibt als auch, die eigene Mitverantwortung für dieses Phänomen und die Tatsache, dass die Kritik allein den Zustand nicht beende.

Und: Wer verdammtnochmal sind eigentlich „wir“?!?

Analyse

Die World Cafe-Runden zum Thema Analyse waren mit Abstand am schlechtesten besucht. Die eigentliche Intention dieser Themenrunde bestand darin, Gesellschaftsanalyse als eigenständiges Thema zu verankern. Die geringe Teilnahme hing wohl auch damit zusammen, dass sich Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse bereits durch sämtliche anderen Themenrunden zog. Das auch im Kontext der übrigen Diskussionen hervorstechende Ergebnis war die These, Parallelgesellschaften könnten als wichtige Basis für die Organisierung von Widerstand dienen. Aus dieser Form von Vernetzung entstünde Bewegung, jedoch nicht, wenn diese sich selbst isoliere.

Organisierung

Das Thema Organisierung wurde sowohl in World Cafe-Runden behandelt als auch in einer ausführlichen Arbeitsgruppe am Sonntag.

Generell wurde in den Diskussionen der Standpunkt vertreten, es solle mehr Vernetzung, Austausch und Zusammenarbeit geben, da von einer starken Vereinzelung der Gruppen, Zusammenhängen und Einzelpersonen ausgegangen wurde. Auch die Wichtigkeit kontinuierlicher Strategiedebatten wurde hervorgehoben, um eine gemeinsame Ausrichtung und einen gemeinsamen Wissensstand zu erarbeiten.

Die Organisierungsform der Politgruppe wurde als offenes und geschlossenes Modell und teilweise kontrovers diskutiert. Für die Entfaltung politischer Radikalität über eine relativ kurze Phase hinaus wurde die Bedeutung von ökonomischer und sozialer Absicherung herausgearbeitet, wie sie beispielsweise durch gegenseitige Hilfe im Alltag und das Teilen von Ressourcen in politischen Zusammenhängen geschaffen werden könne. In der weiteren Auseinandersetzung wurde zwischen Organisierung und Organisation unterschieden, hierbei wurden sowohl positive als auch negative Aspekte herausgearbeitet und insbesondere vor Institutionalisierungstendenzen von Organisationen gewarnt.

Im Zentrum der Arbeitsgruppen-Diskussion stand die zu diesem Zeitpunkt relativ frisch gegründete Bremer Autonome Vollversammlung (AVV). Hervorgehoben wurde die Bedeutung der AVV für theoretischen und praktischen Austausch, gruppen- und teilbereichsübergreifende Diskussionen, Strategiedebatten, die Entwicklung gemeinsamer Standpunkte und die Überwindung der tendenziell wahrgenommenen Theoriefeindlichkeit. Dabei wurde es allerdings als problematisch betrachtet, dass durch die Beteiligung von Einzelpersonen und Gruppen vor allem zu „ihren“ Themen eine stärkere Aufteilung in Teilbereich stattfinden könne statt diese aufzubrechen. Es wurde vorgeschlagen, dieser Tendenz durch die stärkere Verknüpfung von Themenbereichen entgegen zu wirken. Ein weiterer Kritikpunkt an der AVV lautete, dass es an Raum für gründliche Gesellschaftsanalyse fehle. Dies wurde allerdings von vielen nicht als Aufgabe der AVV betrachtet. Dennoch wurde als Lösungsvorschlag formuliert, kontinuierliche Arbeit an komplexeren Themen in Arbeitsgruppen auszulagern.

Als ersten Schritt in Richtung einer Organisierung jenseits der lokalen Ebene wurde die Vernetzung mit anderen AVV’s in der Region erwogen. Um die gegenseitige Wahrnehmung und den Austausch von Städtezusammenhängen zu forcieren, wurde die Empfehlung ausgesprochen, Teilprotokolle der AVV’s zu veröffentlichen. Zudem wurde die weitere Beteiligung an sozialen Kämpfen (womit nicht nur Arbeitskämpfe gemeint waren) und der Ausbau bestehender Kontakte zu anderen Akteur_innen in diesen gefordert.

Unter linksradikalen Arbeitsweisen ist exemplarisch Kampagnenpolitik diskutiert worden: Diese sei oft marktförmig angelegt, wobei verschiedene Gruppen darum konkurrierten „ihre“ Kampagne als Event anzupreisen. Dies ersetze oft eine kontinuierliche gesellschaftspolitische Ausrichtung. In der Diskussion wurde die Zielsetzung formuliert, Proteste über Eventmobilisierungen hinaus auch an weniger prominente Orte zu tragen.

Soziale Kämpfe

In den World Cafe-Runden zu Sozialen Kämpfen wurde festgestellt, dass es keine Kämpfe außerhalb von sozialen Kämpfen gebe. Dies leitete sich aus der These ab, soziale Kämpfe seinen mehr als nur Arbeitskämpfe, sondern Kämpfe um die Gestaltung des Alltags. Kritisch hinterfragt wurden Rolle und Blick auf soziale Kämpfe sowie die Unterscheidung in „ihr“ und „wir“. Als Hindernis für eine Beteiligung an sozialen Kämpfen wurde die verbreitete Wahrnehmung genannt, diese seien reformistisch und dienten häufig nur der Verbesserung des eigenen Status. Demgegenüber wurden als wichtige Faktoren für eine Beteiligung an sozialen Kämpfen der Dialog auf Augenhöhe und das Selbstverständnis als Teil des Kampfes statt des Betreibens von Avantgardepolitik genannt. Außerdem sei Kontinuität ein wichtiger Faktor, jedoch könnten auch Kampagnen ein Teil der Kämpfe sein. Wut und Frust in Kämpfen sollten als Katalysatoren für Radikalisierungsprozesse erkannt und genutzt werden.

Kritischer Internationalismus

Die Ausgangsthese der Diskussion in den World Cafe-Runden lautete: Es habe einen Bruch im internationalistischen Selbstverständnis der radikalen Linken gegeben. Verbreitet war die Wahrnehmung, in der deutschen Linken habe es eine Verlagerung von utopisch angelegte Weltrevolutionsgedanken zu reinen Abwehrkämpfen gegeben. Um in globalen Kämpfen sinnvoll agieren zu können, sei es wichtig Parallelen zu hiesigen Geschehnissen herauszuarbeiten. Hierbei sollte nicht auf nationale Befreiungsbewegungen sondern auf Selbstorganisierungen von unten positiv Bezug genommen werden. Kritisiert wurde die Fixierung des Diskurses auf Begrifflichkeiten wie die Internationalismusdefinition. An Stelle dessen wurde die gelebte globale Solidarität gesetzt. Die Fokussierung auf bestimmte Konflikte sei zu hinterfragen.

Bündnisse

Bündnisse wurden sowohl in World Cafe-Runden als auch im Rahmen der AG Organisierung diskutiert.

Bei der Wahl ob oder welcher Bündnispartner_innen sei Selbstorganisierungen jeglicher Art (bürgerlich, links oder linksradikal) gegenüber repräsentativen Organisationen und Funktionärskörpern der Vorzug zu geben. Wichtige Faktoren der Bündnisarbeit seien Kontinuität und die Erkenntnis der Prozesshaftigkeit des Engagements. Kritisiert wurde, dass sich radikale Linke häufig als Dienstleister_innen einspannen ließen statt eigenen Ideen und Utopien Ausdruck und Sichtbarkeit zu verleihen. An dieser Stelle wurde mehr Selbstbewußtsein beim Formulieren eigener Forderungen verlangt. Freie offene Rede, konstruktive Kritik und der respektvolle Umgang miteinander wurden als wichtige Fertigkeiten für Bündnisprozesse betrachtet, die es zu üben gelte, jedoch nicht im Sinne einer Professionalisierung Einzelner, sondern einer kollektiven Selbstermächtigung. Es wurde angemerkt, dass Gruppen, die intensive Bündnispolitik betrieben, innerhalb der radikalen Linken oftmals Ressentiments ausgesetzt seien.

Medien

Das Thema Medien wurde in World Cafe-Runden und einer ausführlichen Arbeitsgruppe diskutiert. Eingangs wurden die positiven wie negativen Aspekte von Print- und Onlinemedien einander gegenüber gestellt (Kontrollierbarkeit der Verbreitung vs. Zugänglichkeit). Zu Printmedien wurde außerdem angemerkt, dass diese weiter in den realen sozialen Raum hinein reichten. In der Arbeitsgruppe wurde zu diesen Ergebnissen hinzugefügt, dass Print- und Onlinemedien sich nicht ausschlössen und es sinnvoll sei, sie ergänzend zu einander zu nutzen. Zugleich Gegenöffentlichkeit zu schaffen sowie auch eigene Diskurse zu platzieren wurde als Anspruch an eigene Medien formuliert. Interesse wurde an einem Zeitungsprojekt geäußert, das eine Schnittmenge zwischen Subkultur, radikaler politischer Szene und Öffentlichkeit bilde. Als Ergebnis der Diskussion lässt sich festhalten, eigene regionale Medien seien für eine aktuelle regionale Schwerpunktsetzung, einen allgemeinen Überblick über Aktivitäten und Kampagnen in der Region sowie für interne Debatten und Prozesse wichtig. In der Auseinandersetzung gab es viele praktische und teilweise kontrovers diskutierte Überlegungen zu einem lokalen Zeitungsprojekt. [Update: Kurz nach der MR und unabhängig von ihr erschien mit „LaRage“ ein neues autonomes Zeitungsprojekt für Bremen.] Die gesamte Diskussion bewegte sich im Spannungsfeld von (Gegen-) Öffentlichkeit schaffen und drohender Repression. Diskutiert wurde auch das Wechselspiel zwischen bürgerlichen und „eigenen“ Medien. Hierbei wurde auch der Umgang mit Mainstreammedien thematisiert. Bei diesem Thema entwickelte sich eine Kontroverse zwischen den Standpunkten eines offensiven Umgangs mit Medien und dem Ignorieren der Medien. Dabei kam auch die Frage auf, inwieweit von Massenmedien erzeugte Bilder von „uns“ reproduziert würden. Abschließend wurde festgestellt, es komme letztlich nicht auf die mediale Wahrnehmung linksradikaler Politik an, sondern auf deren tatsächliche Trag- und Anschlussfähigkeit. Es bestand Einigkeit, dass es nicht darum ginge, für die Medien zu agieren. „Unsere“ Politik drücke sich in „unseren“ Kämpfen aus und nicht über die bürgerliche Presse.

Interventionsmöglichkeiten

Gipfelprotesten und der Antiglobalisierungsbewegung wurde in den World Cafe-Runden und der AG nach wie vor eine große Relevanz eingeräumt. Jedoch variiere die Bedeutung, Ausrichtung, Zusammensetzung und Zielsetzung von Gipfel zu Gipfel. Ausgiebig wurde das Für und Wider von Gipfelprotesten diskutiert. Für die weitere Ausrichtung eigener Aktivitäten gab es verschiedene Vorschläge: Gipfelproteste seien in realen lokalen Kämpfen zu verankern und sollten aus diesen heraus entwickelt werden statt von diesen Kräfte abzuziehen; daraus ergebe sich auch die ebenfalls geforderte Kontinuität von Aktivitäten und lokaler, überregionaler sowie globaler Vernetzung; in der Dezentralität direkter Aktionen statt zentraler Massenmobilisierungen wurde eine mögliche Antwort auf die zunehmende Berechenbarkeit von Gipfelprotesten gesehen; hervorgehoben wurde die Notwendigkeit, mit eigenen Inhalten wieder sichtbar zu werden und diese nicht Stellvertreter_innenorganisati onen zu überlassen. Intensiv wurde die Frage diskutiert, ob der massive Gipfelschutz und die damit einher gehende Entdemokratisierung nicht bereits genug inhaltliche Angriffsfläche biete. Es wurde die These aufgestellt, dass Gipfelproteste als Teilbereiche von oder Katalysatoren für Revolten fungieren könnten.

Zur Entstehung von Revolten und ihren Subjekten standen sich mehrere kontrovers diskutierte Thesen gegenüber, die in der vertieft geführten Diskussion der Arbeitsgruppe dahingehend aufgelöst wurden, dass Revolten in jedem Fall nicht als „Revolution im kleinen“ zu betrachten seien. Revolten seien temporäre Aufstände als Reaktion auf schwer auszuhaltende Zustände, emotionale Lagen etc. Sie bedürften weder einer Agenda noch einer Perspektive, seien nicht zielgerichtet und würden oft zerschlagen oder beendeten sich selbst. Revolten können eine emanzipatorische Ausrichtung haben, dies sei aber nicht zwingend, vielmehr könne auch der gegenteilige Fall eintreten. In der Diskussion wurde es für möglich und sinnvoll erachtet, zu einer emanzipatorischen Entwicklung beizutragen.

Der gegenwärtige Zustand der radikalen Linken wurde einer umfassenden Kritik unterzogen und darauf verwiesen, dass die u.a. daraus resultierende und zum Teil selbstverschuldete gesellschaftliche Isolation ein radikalisierendes/revolutionierendes Einwirken auf die Gesellschaft verhindere. Eine sich verändernde Sicht auf Kollektivierung und Individualität sowie der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Realitäten wurden als wichtige Faktoren für die Entstehung von Revolten benannt. Ein Schlüssel hierzu sei die Kommunikation im sozialen Rahmen. Für die erfolgreiche Intervention in künftige Revolten sei es notwendig, sich mit der Geschichte von Revolten und Revolutionen, dem Gewaltbegriff und dem Ursprung der Gewalt, mit struktureller Gewalt und Militanz auseinander zu setzen. Wünschenswert wäre es, diese Punkte weiter zu diskutieren und Begriffsdefinitionen sowie Defizite unserer Strukturen herauszuarbeiten, um diese zu überwinden.

Repression/Trauma – Trauma/Burn Out

Die Repressionsdebatte in den World Cafe-Runden stand unter dem Eindruck der Forderung, den Repressionsbegriff schärfer zu umreißen und nicht allein auf staatliche Repression zu beziehen. Vielmehr sollten gesellschaftliche Repressionszusammenhänge nicht außer Acht gelassen werden. Der verbreiteten Individualisierung von Repressionserfahrungen wurde die Notwendigkeit zur Solidarisierung auch mit Aktionen jenseits des eigenen Aktionsspektrums gegenüber gestellt. In der Diskussion zum Umgang mit Repression wurde das Spannungsfeld Unschuldskampagne vs. Repression als (logische) Konsequenz revolutionärer Politik aufgemacht. Es wurde die These aufgestellt, Repression strebe Traumatisierung an, potentiell seien folglich alle Aktivist_innen traumagefährdet. Austausch hierüber und Unterstützung seien wichtig, fehlende Sensibilität sorge für Reproduktion von Bildern der Stärke und „starker Männlichkeit“.

Die Arbeitsgruppe widmete sich vornehmlich den Themen Leistungsdruck, Überforderung, Ängste und Trauma, die selten thematisiert würden. Dies führe zu Überlastung und psychischem Druck und ende oft in Aktivitätsabbruch. Dies sei auch für den (niedrigen) Altersdurchschnitt in der Szene mitverantwortlich.

Ein gemeinsamer präventiver Umgang mit Repression, Trauma, Überlastung, Burnout etc. wurde eingefordert. In Bremen will sich ein Treffen oder eine Gruppe formieren, die zum Thema arbeitet, Vernetzung mit bestehenden Gruppen aufbaut und dabei u.a. auf Materialien der Berliner Outofaction-Struktur zurückgreift. [Update: Inzwischen haben die ersten Treffen stattgefunden und weitere, monatliche Treffen sind geplant.]

Ergebnisse

In der Prozesshaftigkeit des Diskussionsansatzes wurden auch einige konkrete Ergebnisse erarbeitet. Aus der Diskussion über Medien und der Abschlussrunde stammt die Feststellung, dass eigene interne (regionale) Medien für aktuelle regionale Schwerpunktsetzungen und einen allgemeinen Überblick über Aktivitäten und Kampagnen mit lokalem Bezug sowie für interne Debatten und Prozesse wichtig seien. In der Abschlussrunde wurde die Forderung nach einem solchen Medium für Bremen gestellt. [Update: Kurz nach der MR und unabhängig von ihr erschien mit „LaRage“ ein neues autonomes Zeitungsprojekt für Bremen.]

Zum Thema Trauma/Burnout/Repression will sich eine Gruppe formieren, um sich tiefergehend mit der Problematik zu befassen. Diese Gruppe will zunächst Vernetzungen mit anderen dazu arbeitenden Zusammenhängen aufbauen (wie Outofaction) und die Möglichkeit weiterer Aktivitäten ausloten. [Update: Inzwischen haben die ersten Treffen stattgefunden und weitere, monatliche Treffen sind geplant.]

Eine Fortsetzung der begonnen Debatten war allgemein erwünscht, hierzu wurden folgende Vorschläge gemacht: Zum einen weitere mehrtägige Diskussionsveranstaltungen ähnlich dieser im halb- bis ganzjährigen Rhythmus, zum anderen eine kontinuierliche Fortsetzung der Prozesse auf der Autonomen Vollversammlung (AVV). Sollte dort der Raum für ausführlichere Themen wie eine gründliche Gesellschaftsanalyse fehlen, wurde vorgeschlagen, diese in Arbeitsgruppen der AVV auszulagern. Für die AVV wurde auch die Einrichtung eines Briefkastens gefordert, um eine anonyme Möglichkeit für Kontakt und Input zu schaffen.

Schlussauswertung & Ausblick

In der Abschlussauswertung wurde das Wochenende allgemein positiv bewertet. Mehrfach wurde angemerkt, dass dies nicht die letzte Zusammenkunft dieser Art gewesen sein sollte und die Diskussionen des Wochenendes als Teil eines fortlaufenden Prozessen zu betrachten seien. Als besonders positiv hervorgehoben wurde der Eindruck eines breiten Konsens zu den Fragestellungen und Kritikpunkten der Tage. Interessant waren in diesem Zusammenhang städteübergreifende Parallelen in praktischen Erfahrungen und Lösungsansätzen. Demgegenüber wurde in den Diskussionen eine gewisse revolutionäre Ungeduld vermisst. Auch sollte die Konfliktfähigkeit innerhalb „unserer“ Strukturen gestärkt, inhaltliche Trennschärfe erarbeitet und die gemeinsame Streitkultur entwickelt werden.

Ein Ziel der militant reflection-Idee ist das Entstehen gemeinsamer,gruppen- und themenübergreifender Diskussionen, um unabhängig von verschiedenen politischen Schwerpunktsetzungen zu einem bewegungsweiten Austausch über Strategien und Perspektiven zu kommen. Aus dem Fazit der Vorbereitungsgruppe ergab sich unter anderem, dass die Anwendung verschiedener Methoden wie die des World Cafe für diese Zielsetzung sehr sinnvoll war, wenngleich sie andererseits wahrscheinlich zu Lasten der inhaltlichen Tiefe vieler Diskussionen ging. Außerdem hatte die Vorbereitungsgruppe sich für die angewandten Methoden aufgrund vorheriger Einschätzungen zur Teilnehmer_innenzahl entschieden und weil diese eine gute Voraussetzung dafür sind, dass alle Menschen sich einbringen können, auch die, die sonst in großen Gruppen nicht zu Wort kommen können oder möchten. Je nach Teilnehmer_innenzahl und strukturellen Voraussetzungen (z.B. Räume) gibt es noch verschiedenste Methoden, die für eine Diskussionsveranstaltung dieser Art passen können. Bei der Auswertung wurde schnell klar, wie wichtig es ist, Mitschriften und Protokolle zu haben, die das ganze dokumentieren. Die Auswertung selber ist einer der Grundbausteine, die für das Gelingen der Veranstaltungen notwendig sind. Die Idee der militant reflection lebt davon, dass sich viele Menschen daran beteiligen, in ihren Orten und Regionen eigene Veranstaltungen organisieren, sie an ihre jeweiligen lokalen Bedingungen anpassen und über die Dokumentation der Veranstaltungen ein Austausch zwischen den verschiedenen Zusammenhängen stattfinden kann. militant reflection ist ein Konzept, das von allen Menschen aufgegriffen werden kann. Nur wenn dieses an verschiedensten Orten passiert, können Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgedeckt, somit eine überregionale / internationale Diskussion stattfinden und eine gemeinsame Strategie entwickelt werden. Dies birgt die Möglichkeit, trotz der Dezentralität und dem teilweise geringen Organisierungsgrad autonomer/anarchistischer/linksradikaler Zusammenhänge, zu einer bewegungsübergreifenden Diskussion zu kommen.

Wenn also euer Interesse geweckt wurde dieses Konzept aufzugreifen, steht die Vorbereitungsgruppe der Bremer Station euch für Unterstützung auf jeden Fall zur Verfügung. Schreibt in dem Fall einfach eine Email an: milref [at] riseup.net (PGP-Schlüssel)

Glossar:

dissent!: erstmals in der Vorbereitung der Gegenaktivitäten zum G8-Gipfel 2005 in Gleneagels als Werkzeug zur Koordinierung des radikalen Widerstands in Erscheinung getretene Vernetzung. Seitdem sind eigenständige dissent!-Strukturen in verschiedenen Ländern entstanden – mal zeitlich begrenzt wie zum G8-Gipfel in Heiligendamm, mal dauerhaft angelegt. dissent!-Netzwerke haben kein zentrales Büro, keine Sprecher_innen, keine Mitgliederlisten. Sie sind ein Mittel zur Kommunikation und Koordination zwischen lokalen Gruppen und Arbeitsgruppen innerhalb des autonomen, linksradikalen und anarchistischen Widerstands.

World Cafe: Diskussionsprinzip, bei dem sich eine große Gruppe zu Beginn in mehre kleine aufteilt. Diese sitzen dann an verschiedenen Tischen, an denen unterschiedliche Fragestellungen bearbeitet werden. Die jeweiligen Zwischenstände, bzw. Ergebnisse werden auf die Tische geschrieben. Nach einer gewissen Zeit tauschen alle (nach Wunsch) die Plätze, um sich in neuen Konstellationen auszutauschen. So können im besten Fall alle mal mit allen diskutieren, ohne dies in der Grossgruppe tun zu müssen.

elitär: auf der Zugehörigkeit zu einer (selbsternannten) Elite begründet, ausgrenzend.

Burnout: “ausbrennen”, Zustand massiver körperlicher und emotionaler Erschöpfung, reduzierter Leistungsfähigkeit in Folge von Überanstrengung und Überlastung

Event- und Kampagnenpolitik: Oft relativ kurzfristig angelegte, ab Ende der 80er und vor allem in den 90ern in autonomen Zusammenhängen populär gewordene Politikansätze, welche die Beeinflussung eines einzelnen Themas oder Ereignisses zum zentralen Aktionsfeld machen, statt eine langfristige gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln.

Reproduktion: Unbezahlte, zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen und individuellen Arbeitskraft notwendige Arbeit, z.B. Hausarbeit, Aufziehen von Kindern, Pflege von Angehörigen und Freund_innen etc.)

Habitus: Äußere Erscheinung, Haltung

institutionalisiert: in eine (gesellschaftlich anerkannte) feste, starre Form bringen

Avantgardepolitik: Politik (Bewegung), die vorprescht und dabei vergisst, die Meisten mitzunehmen bzw. gar nicht mitnehmen will, die sich einen Führungsanspruch anmaßt

Katalysator: in diesem Zusammenhang: Beschleuniger

fokussieren: In den Fokus stellen, zum Schwerpunkt, Mittelpunkt des Interesses machen

Ressentiments: Abneigung, Stimmungsmache, die auf Vorurteilen o.ä. (unbewusstem) basiert

Agenda: „Tagesordnung“, hier: eine festgelegte Struktur

strukturelle Gewalt: Nicht durch unmittelbare physische oder psychiche Zwangseinwirkung sondern durch gesellschaftliche, soziale oder organisatorische Strukturen ausgeübte Gewalt, die das Individuum an Selbstentfaltung und Emanzipation hindert

Trauma: hier: seelischer Schock, starke seelische Verwundung oder Erschütterung durch Ereignisse, welche die Belastungsgrenze des Individuums übersteigen, deshalb nicht verarbeitet
werden können und dann eine Vielzahl psychischer Beeinträchtigungen nach sich ziehen